14.1.11

Vielleicht so?

Ich lehne an der Mauer eines Flachbaus am Rand der Pasinger S-Bahnhofbaustelle. Es ist Schnee, das Jahr hat noch einen Tag. Es kommt eine Gruppe in Schwarz aus dem Bau, die auffällt im Weiß rundherum, vor allem, weil einige der Menschen in Schwarz sehr strahlen übers Gesicht. Ja, es ist das Standesamt und ja, es ist eine Heirat. Wenn es kalt ist in Deutschland, tragen die Leute nun mal schwarz, und wenn es festlich wird, auch schon mal.

Aber wo ist das Brautpaar? Die da so besonders strahlt, ist damit alleine, ihr Partner starrt nur. Na, so schlimm wird’s doch nicht sein? Nein, denn da läuft ein anderer Mann in Schwarz mit Familienbuch in Klarsichthülle voraus und neben ihm eine mit schwarzem Mantel und Rock, die einen Blumenstrauß in einer grünen Metzgerskunststofftüte mit sich trägt. Die Braut also. Eher scheu. Die nächste Braut also: die grüne Tüte.

Der Bräutigam? Versucht nicht scheu zu sein und die Führung zu übernehmen. Die hat aber schon ein Bulliger im asch-schwarzen Lodenmantel inne, der einen Hut trägt, der bestimmt Tracht ist, aber leider wie einer der Deppenhüte vom Oktoberfest aussieht. Doch er trägt ihn mit Ernst, und zwar zu dem Mercedes auf dem Hit-Parkplatz mit dem auffälligen Kennzeichen eines Autoverleihers. Das Brautpaar folgt, schaut und redet sich dabei fast eine bisschen an.

Man hält vor der Hutablage des Mercedes, der Seppelhut doziert kurz etwas dazu, das Brautpaar schaut und hört zu, die anderen Gäste kommen hinzu, es bildet sich ein kleiner Auflauf ums Heck des Mietwagens. Da drückt der Seppelhut dem Bräutigam etwas in die Hand, es ist der Parkschein, denn der Bräutigam nun zum Parkscheinautomaten trägt und bezahlt. Die Menge löst sich auf, der Blick wird frei auf die Hutablage, da liegt eine Blumengirlande zwischen den Boxen. Draußen ist es einfach zu kalt für Rosen.

Der Seppelhut setzt sich stumm ans Steuer, eine verhuschte Frau neben ihn, das Brautpaar dahinter. Man fährt los, steckt das Ticket in den Entwerter, die Schranke geht hoch, die Brautleute fahren davon. Die anderen machen noch ein paar Fotos auf dem Hit-Parkplatz, dann folgen sie mit ihren Autos durch die sich immer wieder hebende und senkende Schranke. Gehupt wird nicht. Sie wissen sicher, wohin es zum Mittagessen geht. Ich würd’s auch zu gerne wissen.

17.10.10

Kummerzorn und Spannhaut

Ich sitze im Rosengarten auf einem Gitterstuhl der Stadtgärtnerei und die Oktobersonne scheint mir ins Gesicht. Als ich nach abgekapselten Tagen an diesem Sonntagmittag auf die Straße getreten bin, war die Stadt ganz still und klar, selbst der Auftrieb an der Isar lief wie ein fremdsprachiger Film im Hintergrund ab.

„Du versaust uns den ganzen Nachmittag”, zischt es hinter mir, „den ga-han-zen Nachmittag. Statt dass Du froh bist, dass wir mal rauskommen, machst du wieder nur alles schlecht. Du kannst immer nur alles schlecht machen.” Die Frau spricht sehr präzise und fast singend, was vor allem an ihrem schweizer Dialekt liegt, der sich einmal völlig Bahn bricht, als sie den Mann einfach niederreden muss, weil er immer nur leise murmelt und dabei zwischen weinerlich, aggressiv und höhnisch changiert, während sie immer nur phrasiert und die Phrasen dabei stets wiederholt, Strich und Punkt. „So kannst Du mit mir nicht reden, kannst Du nicht, das muss ich mir nicht gefallen lassen, muss ich nicht, nie, nie, nie hast Du mal eine Idee, keine Idee, nie, nie, mit Dir komme ich überhaupt nicht mehr unter Leute, ich fühl mich mal schon ganz isoliert von der Welt, wenn Du mir so kommst, sind wir geschiedene Leute”, so steigt es immer wieder hinter mir zwischen den Rosen hervor, während ich mit geschlossenen Augen mein Gesicht in die Sonne halte. Erste Fluchtgedanken weichen bald der Vorstellung, ein Hörspiel zu erleben.

Er murmelt von Innovationen und vom Seehaus, sie schwyzerzischt, was denn am Seehaus innovativ sei und sie wollte halt mal in den Rosengarten, und nie, nie, nie komme was von ihm! „Deine Psychologin”, schreit er plötzlich auf, „weißt Du, die ghört ersäuft, mit dem Kopf zuerst” und äfft kindisch eine Frauenstimme nach. Sie wartet still, bis er fertig ist, dann hackt sie böse wispernd zurück.

Erst nach einer Viertelstunde denke ich darüber nach, wie sie wohl aussehen und stehe dann auch schon auf, drehe mich um und gehe auf sie zu, der Weg führt genau zwischen ihnen hindurch, er ein großer grauer Mann in einer Wanderjacke, die wie Herbstlaub leuchtet, sein stattliches Gesicht hat über die Jahre viel Kummer gefressen und Zorn ausgespuckt. Sie im schwarzen Kostüm mit einem Gesicht, aus dem die Augen hasserfüllt wie hilfesuchend heraustreten, so dass man meint, die blass-glänzende Haut würde deswegen so glatt über den Knochen spannen.

Keine Frage, Kummerzorn und Spannhaut proben seit vielen Jahren für dieses Sonntagnachnmittagsstück, das selbst auch nur wieder eine Probe ist für die täglichen Stücke der nächsten Jahre. Ich könnte jetzt hingehen und ihnen sagen, dass jeder hier im Rosengarten nach dieser Viertelstunde weiß, dass das nichts mehr wird, dass sie jetzt doch endlich mal ihr Stück bis zum Ende durchziehen sollen, statt immer den Aufstand zu proben. Aber hey, ich bin doch nur Publikum. Und drehe nach links ab und hole mir im Cafe ein Stück Mohnkuchen.

8.9.10

Sonne in der Nacht

Ich sitze in der Tür und auf der roten Bank. Vor dem Büro regnet es, deswegen steht die Bank in der Tür und hält sie auf und ich sitze an ihrem äußersten Eck, fast draußen, aber im Trockenen.

Ich habe drei Tage im Arabellapark verbracht, was für Außermünchnerische wahnsinnig romantisch klingt. Aber das ist nur der Name für eine Landschaft aus Hochhaushängen und Verbundsteinpuszta, durch die an den besseren Tagen der Föhn Menschenleeren von Angestellten treibt. „Arabella” ist die Tochter vom Bauherren Schörghuber, den sie das hier hinstellen lassen haben. Nach ihr ist auch ein Radio in dieser Stadt benannt, also jetzt kein Transistorradio, sondern ein Sender, den ich mir manchmal ins Auto hole, wenn ich mitsingen will.



Stellt Euch einfach jemanden mit langen grauen Haaren vor, der ein teures Hemd sehr offen trägt und auf dessen schon etwas welker Brust ein goldener Anhänger liegt, der „Arabella” sagt, während er laut aus der Cabriokabine seines Porsche Toscana „Sonne in der Nacht” von Peter Maffay singt. So einen. So einen würde man niemals zu Mittag im Arabellapark treffen, an dem die Straßen nur vorbeiführen, große Straßen, die zu noch größeren Straßen führen, die einen ganz weit weg von München führen, zum Beispiel zum Ikea in Eching oder nach Norschwabing oder Nürnberg.

Auch im Arabellapark gibt es nirgends ein Ziel, wer hier wohnt, den möchte ich nicht kennen. Ich kenne auch keinen. Ich kenne Leute, die hier arbeiten, und das sind die normalsten. Denn man sieht sie mittags nicht zwischen San Francisco Coffee Company und Bistro Föhn und Rewe und Cedar Lounge beim Schaulaufen zwischen den ganzen Burdamädchen, die an einem Spätsommertag, der sich selbst nicht so recht entscheiden mag, entweder mit nackten Beinen oder mit blickdichten Sturmpfhosen in ihren Stiefeln stecken und staken und auch nicht zwischen den jungen Männern, deren Hände hilfos aus dem Sakko hängen, wenn sie in der Mittagspause über die Witze ihres Chefs nachdenken.

Alle strahlen, lachen und prahlen im Geradeausgang, als wären sie schon so weit; traurig muss ich dann aber doch ganz alleine für sie sein. Nur nicht für diese Ältere, Typ verkapselte Modeschlussredakteurin, die nach dem Mittagsrennen noch vor dem Italiener sitzen bleibt, in dem die Kellner alle so nett sind, und mit sich redet über das Pack, dass sie endlich alleine lässt. Oder nein, da sitzt ein kleiner Hund neben ihr auf der Bierbank und bekommt ab und zu einen Happen Salsicce aus dem Linsenragout mit Papardelle zugeworfen und ein paar Worte. Die Kellner lächeln im Vorbeigehen dazu, die Sonnenbrillen schauen weg.

Als ich vorhin zurückgeradelt bin, habe ich vorne am Giesinger Berg auch Frauen mit großen Brillen und langen Strickmänteln gesehen, auch Männer in Anzügen, und plötzlich waren sie auch normal, einmalig, weil: am Ziel, daheim. Wahrscheinlich sind die vom Arabellapark daheim auch alle ganz nett, normal, einmalig. Der Arabellapark aber bleibt ein riesengroßer Dementor aus Stein, Stahl und Glas mit Löchern für Bäume und Blicke drin, durch die am Sonntagabend immer mal wieder einer nach unten aufs leere Pflaster fällt, wenn die Lindenstraße und der Tatort vorbei sind und das Leben sich ihnen wieder verschließt.

Aber jetzt ist es Mittwoch um halb neun und ich sitze hier in der Tür und kritzele auf Papier, das auf einem Tablett liegt, das auf meinen Knien liegt. Die Kollegin sitzt gleich gegenüber im Schreibtischlampenlicht und tastet zu guter Musik am Computer herum, so als wenn sie die selbst machen würde. Und man könnte denken, ich zeichne sie. Aber es ist anders.

Es ist dunkel, der Feierabend ist jetzt verschwunden. Ein weißer Fiat Panda Pickup rumpelt vorbei, einer steckt aus dem Bistro Harlekin gegenüber kurz den Schwellkopf heraus. Eben standen noch drei im Hauseingang daneben, abwechselnd glühte es in ihren Gesichtern auf. Über der Kreuzung hängt hier eine Doppelneonstraßenlaterne, ein Ende ihrer Aufhängung ist direkt unter meinem Küchenfenster drei Etagen höher verschraubt. In allen vier Straßenrichtungen ist keine zehn Meter weiter noch mal je eine Doppelneon aufgestellt, so dass der dunkle Nachthimmel kaum durchkommt und diese Kreuzung wie ein riesiger Raum wirkt mit Wänden an allen Seiten und Decken- und Stehlampen und Türen, durch die Leute kommen und gehen. Großes kleines Theater.

Ich sitze hier nach drei Tagen Dementorpark an der Nachtrampe, trinke mit der Kollegin einen Stenzz, den wir vor ein paar Wochen erfunden haben und der bald weltberühmt in München sein wird. Ich überleg, ob ich was sagen soll, und da sage ich schon: „Die Leute, die hier her zu uns kommen und sagen, dass es wunderschön ist, die haben eigentlich, ach was, die haben ganz recht.” Hm? Weiter: „Und ich kann hier immer hinkommen! Jetzt hier draußen sein und gleich wieder drinnen, oben. Einfach hier so sitzen und reden und schweigen zu können, gute Leute kennen zu lernen und denen was Gutes zu tun, vom Schreibtisch und vom Herd aus, und dann gehe ich drei Stockwerke höher in meine Wohnung und freue mich drauf - das ist schon ein Geschenk. Aber eins, dass man sich erst mal verdienen muss. Was es noch besser macht.”


Jetzt drückt drüben ein Darter seine Zigarette aus und geht wieder rein zum Royal Flush oder wie sie das nennen. Vorhin bog eine Frau auf dem Rad ums Eck und hielt kurz ihren Mittelfinger hoch. Oben hat auch mal der Fotograf aus dem Fenster geschaut, der sein Studio gleich neben dem Harlekin hat. Und irgendwann habe ich die verrückte Chinesin mit einer alten Chinesin gesehen, wie sie Koffer hinter sich her gezogen haben. Kurz danach ist die verrückte Chinesin zurück ums andere Eck gerannt. Sie hat mir mal erzählt, dass sie Vertrieb für IT-Produkte macht und da immer in irgendwelche Kleinstädte muss, wo Deutschland aber so richtig seltsam ist, und manchmal muss sie auch zu Sachen kommen, die nicht gehen, dabei hat sie überhaupt keine Ahnung von dem Ganzen, sagte sie, und lachte schrill. Sie würde so gerne mal unter der Woche in München sein, hier sein. Sie ist natürlich nicht verrückt. Ob die alte Chinesin wenigstens ihre Mutter ist?

Die drei Harlekins gehen wieder rüber zum Rauchen in den Hauseingang. Oder nein, nur einer sitzt da, ein anderer steht im Kneipeneingang, der Dritte geht im Regen. Ja was?

Ich stelle mich mit meinem dritten Stenzz auch in den Regen, mal sehen wie er dann schmeckt. Dann kommt die schwäbische Conny von gegenüber ums Eck, sie war gerade beim chinesischen Doktor und könnte jetzt davonfliegen, sagt sie und versucht’s auch gleich. Sie hat sich gerade noch ein Feierabendbier an der Tankstelle geholt, ich mache ihr einen Stenzz draus und verspreche, dass ich am Freitag in die Fraunhofer Schoppenstube komme, wo sie in der Nacht Akkordeon spielt und alle mitsingen.

Als wir später Feierabend machen, überlegen wir, was das für ein lustiges schwäbisches Wort das war, das sie immer wieder gesagt hat. Statt „schwätzen”. Aber es fällt uns nicht mehr ein.

29.8.10

Am See

Ich sitze im Eck. Unter mir ein giftgrasgrünes Polster, neben mir ein Samtvorhang in Altrosa, vor mir Klapptischfurnier. Ich schau aus der Wohnwagentür, es regnet immer noch. Ein Wind, der von einer Minute zur anderen kam, hatte den Regen über den See hierher getrieben, die Wellen bekamen Mittelmeerausmaß und schöpften die Boote voll.

Ich fuhr in den Ort, nach einem Transistorradio schauen, in einem Laden, an dem noch „Radio und TV” steht. Schräg gegenüber ein Haushaltswarengeschäft mit Pfannen, Toastern und Keramik in den Schaufensterkammern. Dahinter wurde es schnell dunkel um das familiäre Mittelstandsschicksal in einer Kleinstadt am See, Landjugendflucht, Nachfolgerprobleme. Aber vielleicht schalten die beiden Frauen ja das Licht an, wenn ein Kunde den Laden betritt.



Ich ging in den Zeitschriftenladen, kaufte den Stern, die Süddeutsche, einen Wanderführer und eine Trauerkarte. Der Regen draußen wurde stärker, ich entdeckte hinten im Eck eine Glastür, durch die es direkt in die Eisdiele nebenan ging. Hier saßen drei Bayern und ein Preuße bei Weißbier auf Tropenholz, die blonde Bedienung war sehr braun unter ihrem Gondogliere-T-Shirt und hatte hübsche Fersen in den Lederclogs.

Auf der Fensterbank lagen bunte Sitzkissen, da konnte man sich ein bisschen großstädtischer fühlen, aber als ich kurz nach draußen auf die Terrasse schaute (vorne nasse Tische, hinten ein Trinker), floh ein Touristenpaar an mir vorbei in die Sitzkissenmoderne. Sie schauten sich nicht an, sie redeten nicht, sie sahen aus, wie zwei Menschen, die sich nie kennenlernen wollen. Er bestellte mit Frauenstimme unsicher zwei Cappuccino, sie starrte durch alles hindurch und ich weiß nicht, ob es Wut, Angst oder egal war, aber sie wäre wohl gerne woanders und nicht mit ihm gewesen. Und ich weiß auch nicht, ob das unter ihrem Kinn im Gegenlicht noch ein Regentropfen oder schon eine Warze war.

Dann kam mein Espresso, das Leitungswasser in einem Stielglas, das mit einem Schlag auf dem Fensterbankmarmortisch aufsetzte. Ich las von einem holländischen SS-Mann, der in Ingolstadt lebt, von Kinderzimmern in Downing Street 11 und dass Ex-No-Angel Nadja Benaissa Bewährung bekommt, weil sie mit Männern geschlafen hat. Weil die keinen Kondom hatten. Weil sie ihnen nicht gesagt hat, dass sie HIV-positiv ist. Manchen hat sie es gleich beim ersten Date gesagt, manchen nie aus Angst, die Beziehung würde zu Ende sein. Ich würde gerne wissen, mit welchen Männern sie es dabei ernster meinte.

Ich kenne eine Frau, die als Mädchen den Fanclub von Nadja organisiert hat und dabei viel mit ihr zu tun hatte und viel für sie tat, ohne was. Auch sie eine hübsche, intelligente Halbmarokkanerin mit schwierigen Familienverhältnissen. Eigentlich kenne ich diese Frau nicht, sondern nur das Mädchen von damals. Was sie jetzt wohl über Nadja Benaissa denkt?

Der Wind hat den Regen gerade wieder über den See zurückgetrieben. Ich bekomme kalte Füße, werde gleich die Decke drumwickeln, die über meinen Knie liegt. Draußen läuft einer, der erste seit einer Stunde. Bevor ich nachher fahre, werde ich noch in den See gehen und dann heiß duschen.

Ich weiß auch nicht, aber es geht mir gut.